Eine Frage der Definition: Semantik und Semantisches Web

Neulich Letztes Jahr 2006 erzählte /T, dass Frau C. aus M. immer schmerzhaft das Gesicht verzieht, wenn man HTML und Semantik zusammen in einem Satz erwähnt. Das weckte das Interesse von Herrn H. aus M.: Warum tut sie das? Herr B. aus B G. wagt einen Antwortversuch.

Alter vor Jugend lautet ein Umgangsprinzip und demnach gilt das erste Interesse der traditierten Semantik, die ihre Heimat in der Linguistik hat. Dort ist sie ein vielgestaltiger Begriff mit zahlreichen Teilgebieten, die an dieser Stelle nicht alle ausgeführt werden können. Wer mehr wissen will, beachte bitte die Linkliste am Ende dieses Beitrages.

Semantik in der Sprachwissenschaft

Dem Begriff nach ist sie die Lehre von der Bedeutung. Da in ihr sowohl die Bedeutung von Morphemen, Wörtern, Sätzen und/oder Texten untersucht wird, hat sich die Definition als Lehre von der Bedeutung der Zeichen durchgesetzt. Als solche ist sie neben der Pragmatik und der Syntax der Semiotik untergeordnet. Um das Verhältnis zu semantischer Frontendentwicklung zu klären, sind diejenigen Teildisziplinen entscheidend, die sich mit Bedeutungen in Sätzen und Texten befassen.

Formale Semantik

Eine dieser Disziplinen ist die formale Semantik, die sowohl in der Informatik als auch in der Linguistik betrieben wird. Im Begriff formal klingt bereits an, dass hier mit den Mitteln der Logik gearbeitet wird. Die formale Semantik sucht die Bedeutung im mathematisch erfassbaren Wahrheitsgehalt von Aussagen. Hä? OK, nochmal:

Bedeutung = der Wahrheitsgehalt von Aussagen.

Basistrauma aller Philologie-Studenten und Paradebeispiel in Anlehnung an das Paradoxon des Epimenides ist das Lügenparadox:

Dieser Satz ist falsch.

Das Paradox entsteht wie folgt: Nehmen wir an, der Satz sei falsch. Dies ist aber genau das, was der Satz sagt, der Satz ist damit wahr. Dies ist ein Widerspruch. Nehmen wir nun stattdessen an, der Satz sei wahr. Der Satz sagt aber, dass er falsch ist, daher muss er, wenn er wahr ist, falsch sein – ebenfalls ein Widerspruch. Gehen wir nun davon aus, dass der Satz entweder wahr oder falsch ist, dann erhalten wir in jedem Fall einen Widerspruch, d.h. der Satz ist paradox.

Quelle: Wikipedia

Alles klar? Sie werden sich vielleicht, oder besser: hoffentlich fragen:

Was hat das mit semantischem Web zu tun?

Genau. Zunächst gar nichts. Es ging nur darum, deutlich zu machen, dass sich Semantik mit dem Wahrheitsgehalt von Aussagen beschäftigt. Durch den Widerspruch wird das hoffentlich besonders spürbar. Webentwickler hingegen, die diesen widersprüchlichen Satz darstellen sollen, wollen die hierfür vorgesehenen (X)HTML-Elemente einsetzen. Sie würden einfach mit einem Absatz <p> (und wie oben zusätzlich mit einem Zitatabsatz) klammern. Oder anders herum: vermutlich kein Webentwickler wird sich für dieses oder jenes HTML-Element aufgrund des Wahrheitsgehaltes eines Textes entscheiden. Markup bleibt also gegenüber der Bedeutung von Inhalt indifferent. Der Text wird lediglich strukturellen Kategorien zugeordnet. Ein weiteres Beispiel:

Lexikalische Semantik

Zwar hat die Wortbedeutung in der Webentwicklung eine noch untergeordnetere Rolle als bei Sätzen oder Textblöcken. Doch die lexikalische Darstellung von Begriffen bringt uns ein weiteres geeignetes Beispiel, den Unterschied zwischen Semantik und Webentwicklung zu verdeutlichen. Gemeint ist die Definitionsliste. Das HTML-Element ist spezifiziert als eine Auflistung von Termen (<dt>) und ihren Beschreibungen (<dd>). In der lexikalischen Semantik nennt man dieses Begriffspaar Definiendum und Definiens.

Die Definitionsliste ist also für lexikalische Anwendungen wie Wörterbücher, Enzyklopädien oder ähnliches wie geschaffen. In der Webentwicklung werden auch andere Anwendungsgebiete erschlossen: Navigationslisten, Bildboxen mit Legenden oder – auch sehr beliebt – Interviews:

Ich:
Godot, wer sind Sie und wenn ja, wieviele?
Godot
schweigt.

Semantisch gesehen wird der Sagende durch das Gesagte definiert. Noch genauer gesagt müsste man untersuchen, ob der Name des Sprechenden ausdrücklich nicht im Gesagten vorkommt und ob das Gesagte nahezu synonym zum Sagenden ist oder ihn durch Eigenschaften beschreibt. Und ob in unserem Beispiel durch das Schweigen weitere Bedeutungen entstehen, obwohl es keine (physischen) Zeichen dafür gibt. Für die Webentwicklung jedoch ist all das mindestens so irrelevant wie der Wahrheitsgehalt des Gesagten. Eine kleine Ausnahme bildet der lexikalische Einsatz selbst, weil durch die Verwendung der Elemente <dt> und <dd> (indirekt) die Verknüpfung “=” (ist gleich) hergestellt wird. Ähnlich, aber noch unverbindlicher ist es bei Überschriften. Sie können kraft ihrer Nummerierung von 1 bis 6 hierarchisch eingesetzt werden, wodurch Unterordnungen einzelner Überschriften unter vorherige entstehen. In der Praxis schert das nur leider nicht allzu viele.

Der Unterschied

Irgendwie bleibt immer der Eindruck, dass Semantik und semantisches Web etwas miteinander zu tun haben und irgendwie auch nicht. Aber eigentlich lässt sich der Unterschied recht einfach beschreiben:

  1. Semantik beschäftigt sich mit den Bedeutungen von Inhalten.
  2. Semantisches Web kümmert sich um die Beschreibung von Inhalten.

Welchen Zweck hat semantisches Web?

Wenn man also eine Hauptüberschrift mit <h1> auszeichnet, dann ist das in der Theorie zwar semantisch, aber nicht bedeutend. In der Praxis ist das aber anders aus. Denn semantisches Strukturieren erleichtert die Kommunikation. Sir Tim Berners Lee und andere sagen ja ausdrücklich, dass das semantische Web

die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine […] erleichtern

soll.

Das wiederum funktioniert aber nur aus der Metastruktur (Beschreibung) eines Inhaltes, da diese gerade durch ihren vereinfachten Wortschatz maschinenlesbar wird. Hier haben wir also das erneute Muster entsprechend der oben genannten Unterschiede: Es geht beim semantischen Web nicht um die Bedeutung selbst, sondern um den Transport von Zeichen (und damit Bedeutungen) durch ihre Beschreibung (= Metastrukturierung) zur Verbesserung der Zugänglichkeit. Und das ist aus linguistischer Sicht zwar nicht semantisch, aber es ist sehr wohl bedeutend, oder nicht? :-)

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10 Kommentare

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  7. Ein sehr interessanter und aufschlussreicher Artikel. Leider scheint es mir so, als würde der Begriff “Semantisches Web” (engl. Semantic Web) hier mit semantischem HTML verwechselt.

    Anders als im Artikel beschrieben, beschäftigt sich das Semantic Web nämlich sehr wohl mit der Modellierung der Bedeutung von Inhalten, nicht bloß von Strukturen.

    Meist werden dafür Definitionsmengen in XML gebildet und mittels RDF in klassischer Subjekt-Prädikat-Objekt-Manier verknüpft. Letztendlich werden Ontologien modelliert, die auch im sinne der Sprachwissenschaft hochsemantisch sind.

    Als Unterschied des Semantic Web zum klassischen Web kann man folgendes Beispiel nehmen: Wenn ich wissen will, wie ich am Schnellsten / Günstigsten vom Rathaus in Weimar in den Central Park in New York komme, dann ist das eine Heidenarbeit im Web. Ich muss alle möglichen Verkehrsmittel, also z.B. Bus / Bahn / Auto / Strassenbahn / Taxi / Mitfahrgelegenheiten / Flugzeug / Schiff usw,. in Betracht ziehen, Infos über alle Anbieter einholen, mein Wissen verknüpfen und daraus meine Route berechnen. Das Semantic Web meint, dass es das alleine kann. Wenn alle Verkehrsmittel und Strecken semantisch annotiert sind, brauche ich nur noch einen Reasoner auf die Domäne “Travel” loszulassen mit der entsprechenden Anfrage, und der liefert mir dann irgendwann das Ergebnis. Natürlich kann das mitunter ewig dauern. Das gilt aber auch für die Eigenrecherche. Wenn man weitere Beschränkungen angibt (z.B. nicht günstigster sondern irgendeiner unter Preisgrenze xy) geht das entsprechend schneller. DAS meint Semantic Web.

    Semantisches HTML kann all das nicht. Es hilft lediglich, Barrerefreiheit, Geräteunabhängigkeit und Maschinenlesbarkeit zu fördern. Durchaus auch schon ein lobenswerter Fortschritt!

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