Barrierefreiheit, Accessibility und Universelles Webdesign

Es war und ist wieder einmal so weit. Die Accessibility-Debatte wird zum dritten Mal geführt.

Was bisher geschah

Im Kern geht es nach wie vor um die Frage, was denn unter barrierefreiem Webdesign zu verstehen ist und wer primär die Zielgruppe des dazugehörigen Handelns ist. Auslöser der erneuten Diskussion ist ein Beitrag von Jan Eric Hellbusch, der in der Accessibility Blog Parade nach dem Sinn der Barrierefreiheit fragt und feststellt, dass der Mensch mit einer Behinderung stets im Vordergrund stehe. Dies führt <Überraschung?!?!> zu überdifferenzierten, salomonischen oder auch bauchgesteuerten Antworten. Recht und Moral werden zynisch befragt und zum ungezählten Male erfahren wir: 100% Barrierefreiheit gibt es nicht. Sogar pekuniär motivierte Scheingeschwisterlichkeit zur Usability wird entdeckt, wenn Jan Hellbusch feststellt, bei Barrierefreiheit

handelt [es] sich um eine Gebrauchstauglichkeit vor dem Hintergrund einer Behinderung.

Was geschieht hier eigentlich?

Danke, Photocase

Es ist völlig legitim, dass man Argumente oder Meinungen wiederholt. Es gibt derer so viele, dass man sie sogar wiederholen muss. Wir alle brauchen in diesem Themenumfeld täglich neue Erkenntnisse und müssen alte überprüfen. Doch darf deswegen der Begriff der Barrierefreiheit immer dazu herhalten, dass sich jeder wie er will dessen Verständnis hinbiegen kann? Klare Antwort: Nein. Denn genau genommen ist das Begriffsverständnis klar geregelt. Noch dazu von denen, die Standardistas sowieso dafür zuständig wissen wollen:

  1. Zugänglichkeit des Webs bedeutet, dass Menschen mit Behinderungen das Web benutzen können. W3C – Web Accessibility Initiative

  2. Die Gestaltung von Angeboten der Informationstechnik (§ 1) nach dieser Verordnung ist dazu bestimmt, behinderten Menschen im Sinne des § 3 des Behindertengleichstellungsgesetzes […] den Zugang dazu zu eröffnen. Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung

  3. Accessibility ist traditionell – sofern man im Internet überhaupt von Tradition sprechen darf – ein Teil der Usability, also eher deren Tochter als deren Schwester.

Welche Schlüsse lassen diese Feststellungen zu?

  1. Unabhängig von der unglücklichen Übersetzung des englischen Begriffes haben Barrierefreiheit, Zugänglichkeit und Accessibility die gleiche Bedeutung.
  2. Dieses Verständnis des Begriffs ist durch die Spezifikation des W3C erst einmal nichts anderes als das, was auch als wissenschaftlich gültig angenommen werden darf.
  3. Der Gesetzgeber übernimmt diese Perspektive. Die BITV steht hier exemplarisch für die gesamte Rechtslage. Diese ist im wesentlichen mit den Regelungen harmonisiert, die auch in Amerika und der EU Gültigkeit haben.
  4. Im Begriff Zugänglichkeit ist die praktische Nutzbarkeit bereits eingeschrieben.
  5. Im Verhältnis zur Usability ist Accessibility da, wo sie schon immer war und auch bleiben kann.

Angesichts der wissenschaftlichen Erkenntnisse, der Rechtslage und des gesunden Menschenverstandes ist es also schlichtweg vernünftig festzustellen, dass Barrierefreiheit die Nutzbarkeit für behinderte Menschen meint.

Was geschieht sonst noch?

Die Stärke des Webs besteht in seiner Universalität. Zugang für jeden ungeachtet von Behinderung ist ein wesentlicher Aspekt.
Tim Berners-Lee

Zumindest in Zusammenhang mit den Begriffen stellt sich nun die Frage: Müssen wir immer erst für behinderte Menschen entwickeln und anschließend schauen, was sonst noch so möglich ist? Nein, denn es steht uns ein weiterer Begriff zur Verfügung: die Universalität. Er ist vermutlich wegen der Komplexität, die in ihm steckt, noch nicht so recht in den öffentlichen Sprachgebrauch übergegangen. Wenn wir das Zitat von Sir Tim Berners-Lee aufgreifen, könnte man vordergründig annehmen, Universalität und Barrierefreiheit seien identisch. Dem ist aber nicht so. Accessibility meint Zugänglichkeit für behinderte Menschen, Universalität meint die Zugänglichkeit unabhängig von Behinderungen, also für alle Zugangsformen. Universal Design verwendet einen nicht so ausdrücklich behindertenzentrierten Ansatz:

Universal design is the design of products and environments to be usable by all people, to the greatest extent possible, without the need for adaptation or specialized design. Ron Mace

Diese Definiton ist hinsichtlich der Anwendungsbereiche zunächst sehr allgemein gehalten, weil im Universellen Design auch Architektur und Produktdesign einbezogen werden. Nimmt man aber das Medienverständnis von Tim-Berners-Lee hinzu, sollte die Fokussierung auf das Web nicht allzu schwierig sein:

Universelles Webdesign ist das gebrauchstaugliche Design von Inhalten für möglichst alle Nutzergruppen und Ausgabegeräte.

Was sollte geschehen?

Aus Einsichten die richtigen Konsequenzen zu ziehen, ist nicht so ganz einfach. Aber nicht geschehen sollte, dass sich die Web-Community wegen Begriffspaltereien und Kleingeisterei unnötigerweise in zwei Lager spaltet. Ich für meinen Teil bin jedenfalls froh, dass ich in Zukunft das Verständnis von Accessibility nicht nach eigenem Gutdünken umbiegen muss, nur damit ich andere Interessen oder Zugangsformen, die nach bestem Wissen und Gewissen nicht zu den Behinderungen zu zählen sind, in ein Konzept bekomme. Hierfür steht uns der Begriff Universelles Webdesign zur Verfügung.

Eine Klärung der Begriffe löst dennoch nicht automatisch die vielen Probleme. Wir werden es in Theorie und Praxis auch weiterhin mit zahllosen Bugs, Grenzfällen, Schwächen, schädlichen Richtlinien oder anderen Herausforderungen zu tun haben. Die Erfahrung lehrt aber, dass wir bereits heute mit entsprechendem Wissen und Können sehr viele Interessenlagen unter einen Hut bekommen. Daneben besteht Grund zur Annahme, dass die Entwicklungen auch weiterhin einen Fortschritt zu den genannten Ansprüchen bieten.

Ein verbindlicher Schluss ist also in jedem Fall erlaubt: Die existierenden Begriffe sind ausreichend. Sie erlauben zweierlei: den Sinn für Barrierefreiheit zu bewahren und dem Sinn für Universelles Webdesign nachzugehen. Ihre Instrumente sind in erster Linie inhaltsorientiertes Arbeiten, Zielgruppen gerechte Entscheidungen, semantisches Markup und die grafisch angemessene Aufbereitung von Bildinhalten.

8 Kommentare

  1. Du hast zu dem bestehenden Begriffswirrwarr jetzt also noch einen weiteren Begriff geschaffen. Nun, ich muss zugeben, der Begriff “Universelles Webdesign” mit der inhaltlichen Erläuterungen gefällt mir richtig gut.

    Wahrscheinlich ist es nämlich genau die Semantik der zahllos verwendeten Begriffe, die zu den endlosen Diskussionen führt: viele Bedeutungen werden eben nicht universell, sondern individuell interpretiert.

    Wenn Jan den Begriff Barrierearmut ablehnt, meint er das konkret bezogen auf die Haltung “ein bisschen barrierefrei reicht mir”. Diese Prämisse, nicht mehr als unbedingt nötig zu machen und das nur nach eigenem Ermessen ohne jede Richtlinie zu entscheiden, das ist ja wohl tatsächlich ein denkbar schlechter Ansatz, der alle Lücken entschuldigt und den Webdesigner reinwäscht.
    Andere verwenden den Begriff nur aus Gründen der Einsicht, dass es eben keine vollständige Barrierefreiheit geben kann, also die Haltung “ich versuche alles, um die Seiten barrierefrei umzusetzen, vollkommen wird mir das wahrscheinlich nicht gelingen”. Von Halbherzigkeit oder Reinwaschung also keine Spur.

    Wenn dann noch der Kunde die gepunktete Linie unter Abkürzungen und Akronyme definitiv entfernt haben will, weil das “die Optik stört”, hat man ein erstes kleines Problem und ist gleich beim Thema Usability.
    Auch hier teile ich die Meinung, das man beide Begriffe eher schlecht vermanschen als sinnvoll verbinden kann. Und spätestens die Verrramschung von Barrierefreiheit auf dem Feld der Wirtschaftlichkeit – tolle PR für den Kunden, verbunden mit der Aussicht auf zusätzliche Gewinnmargen – geht dann vollends am Thema vorbei. Hier wird die Moral tatsächlich missbraucht, vielleicht war es auch das, was Jan zur Ablehnung dieser Begriffszuordnung bewog.

    Vielleicht hat deine Wortschöpfung “Universelles Webdesign” das Zeug dazu, tatsächlich einen Weg für die Zukunft zu zeigen. Ein schöner Begriff, wie ich finde, in dem Barrierefreiheit, Usability und Design als selbständige Partner ohne Grabenkämpfe gleichberechtigt integriert sind.

  2. Von Neuschöpfung zu sprechen, ist etwas übertrieben. Michael Charlier hat den Begriff “Universelles Webdesign” bereits 2004 bei Mehr Wert für Alle vorgestellt und das Zitat von Ron Mace stammt aus den 90er Jahren.

  3. Pingback: pooker.blog
  4. Kann ich weitgehend zustimmen. Die verschiedenen Begriffe wie accessibility, usability und andere, sind zwar verschieden (bezeichenen verschiedene Dinge), haben aber sehr viele Überschneidungen. Interessanterweise betont gerade der Begriff des “universellen Designs” diese Überschneidungen. Ebenfalls interessant: Dieser Begriff hat wiederum viele Gemeinsamkeiten mit der Medienunabhängigkeit von html (resp. dem, wie html ursprünglich gedacht war). Ich vermute mal, dass es in dem Begriffswirrwar wohl deshalb so schwierig ist, sich zu orientieren, weil eben so viele Gemeinsamkeiten oder Ähnlichkeiten vorhanden sind. Im Grunde stellen all diese Begriffe spezielle Sichtweisen oder Unteraspekte des universellen Designs dar.

  5. Der Begriff “universelles Design” gefällt mir persönlich auch besser als barrierefrei. Gerade XML als Mark-Up Language bietet ja ideale Voraussetzungen, die sollte man von der Überbewertung visueller Kriterien keinesfalls untergraben lassen.

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